Studienüberblick:
Wenn Studierende an der medizinischen Hochschule Krankheiten diagnostizieren, lernen sie, nach verbreiteten Leiden zu suchen und nicht nach seltenen Erkrankungen. Wenn die Symptome auf mehr als eine Krankheit hinweisen, dann ist es am wahrscheinlichsten, dass eine der am meisten verbreiteten Krankheiten diagnostiziert wird. Dazu kommt einem diese bekannte Redensart in den Sinn: „Wenn man Hufschlag hört, sollte man an Pferde denken, nicht an Zebras“.
Das heißt aber nicht, dass Ärzte die Möglichkeit, dass es sich bei einer Krankheit um ein „Zebra“ handeln könnte, völlig außer Acht lassen sollten. Wenn das geschieht, setzt man die Gesundheit der Patienten aufs Spiel.
Diese Fallstudie über die „Odyssee“ der Diagnostik für Patienten mit seltenen Erkrankungen – ein langer und komplizierter Weg, der sich nur langsam auf das Ziel zubewegt – offenbart die Auswirkungen verzögerter und ungenauer Diagnosen bei seltenen Erkrankungen. Forscher befragten 3.471 Patienten mit 436 seltenen Erkrankungen, und deren Betreuer. Unter anderem wurde gefragt, wie oft sie sich Tests unterzogen haben, wie viele Ärzte sie aufsuchen mussten, wie lang sie auf eine Diagnose gewartet haben und ob es Fehldiagnosen gab. Die Ergebnisse sind aufgrund der unterschiedlichen Erfahrungen der Befragten nicht repräsentativ, offenbaren aber gemeinsame Probleme beim Diagnoseprozess.
Zusammenfassung der Studie:
Da sich die Erfahrungen der Befragten stark unterschieden, konzentrierten sich die Forscher auf gemeinsame Erfahrungen, anstatt über Patienten mit seltenen Erkrankungen schlüssige Aussagen zu machen.
Es folgen die wichtigsten Erkenntnisse:
- Die durchschnittliche Wartezeit bis Patienten eine Diagnose erhielten betrug 4,4 Jahre.
- Die mittlere Wartezeit betrug 1,1 Jahre.
Dies weist darauf hin, dass die Hälfte der Umfrageteilnehmer ihre Diagnose nach etwas mehr als einem Jahr erhielten. Viele mussten jedoch viel länger warten, daher beträgt die durchschnittliche Wartezeit 4,4 Jahre.
Weitere wichtige Erkenntnisse:
- Patienten unterzogen sich im Durchschnitt 7 Tests, bevor sie eine Diagnose erhielten.
- Patienten suchten im Durchschnitt 4 Ärzte auf, bevor sie eine Diagnose erhielten.
- 46 % erhielten eine Fehldiagnose.
- 47 % waren der Ansicht, dass sich ihre Behandlung verzögert hat.
- Ein Drittel oder 30,5 % unterzogen sich genetischen Tests. 66,9 % der Patienten waren der Meinung, dass anhand dieser Tests die richtige Diagnose gestellt wurde.
Um gemeinsame Erfahrungen der befragten Patienten zu finden, analysierten die Forscher Daten von 61 der 436 Erkrankungen, die von 10 oder mehr Studienteilnehmern identifiziert wurden. Bei Patienten, die letztendlich mit primären Immundefekten, Spondylitis ankylosans, Zöliakie, Depression, Ehlers-Danlos-Syndrom, Fabry, Mastozytose und Morbus Pompe diagnostiziert wurden, betrug die mittlere Wartezeit 5 Jahre und die durchschnittliche Wartezeit 10 Jahre. Forscher identifizierten eine Reihe von Faktoren, die zu der langen Wartezeit führten:
- Mehrfache Tests waren erforderlich
- Patienten mussten viele Ärzte aufsuchen
- Einige erhielten Fehldiagnosen
Schwerpunkt lag bei spezifischen Erkrankungen
Die Forscher konzentrierten sich auf die persönlichen Aussagen von Befragten, die mit Hämophilie, Mukoviszidose und Ehlers-Danlos-Syndrom diagnostiziert worden waren, um weitere Einzelheiten über sie zu erfahren.
- Hämophilie – zur Diagnose von Hämophilie in Kindern verlassen sich Ärzte stark auf die Familienhistorie. Für Patienten, die aufgrund einer Genmutation daran erkranken, dauert es leider durchschnittlich 4 bis 7 Jahre bis zur Diagnose. Einige wurden erst nach 10 oder mehr Jahren diagnostiziert, und mehr als die Hälfte dieser Patienten waren Frauen. Weibliche Befragte gaben an, dass die Annahme, Frauen seien nur Träger der Krankheit, zur Verzögerung ihrer Diagnose beitrug.
- Mukoviszidose – die obligatorische Vorsorgeuntersuchung auf Mukoviszidose in Neugeborenen unterstützte die Frühdiagnose und Behandlung betroffener Kinder in den USA. Die durchschnittliche Zeit bis zur Diagnose beträgt 3,3 Jahre, mit einem Mittelwert von 0,3 Jahren. Für jene, die vor dem Jahr 2000 geboren wurden beträgt die durchschnittliche Zeit bis zur Diagnose 6,6 Jahre, mit 47 % Fehldiagnosen.
- Ehlers-Danlos-Syndrom (EDS) – Patienten mit EDS hatten mit 21 Jahren die durchschnittlich längste Zeit bis zur Diagnose, und 77,6 % der Befragten erhielten vorher Fehldiagnosen. Zudem unterzogen sich Patienten durchschnittlich 24 Tests und konsultierten 15 Ärzte. Die Befragten waren sich einig, dass sich Ärzte auf „gängige“ Diagnosen konzentrierten und EDS nicht als Möglichkeit in Betracht gezogen wurde. Viele waren der Ansicht, dass eine frühzeitigere Diagnose den Verlauf ihrer Krankheit sehr verbessert hätte.
Angewandtes Lernen
Die Fallstudie zeigt die geläufigen Barrieren für eine zeitgemäße und korrekte Diagnose auf, dazu gehören Vorurteile über eine Erkrankung, die den Diagnoseprozess beeinflussen, geschlechtsspezifische Vorurteile, fehlendes Bewusstsein über spezifische Erkrankungen, späte Konsultation mit Fachärzten und fehlende Versicherung.
Es ist wichtig, diese Barrieren zeitnah zu erkennen. Patienten müssen ihre Ängste überwinden und es vermeiden, ihre Erkrankung zu ignorieren. Zudem müssen sich Patienten Gehör verschaffen, wenn sie denken, dass Ärzte ihre Symptome nicht ernst nehmen, und wie erwähnt, „nach Pferden suchen, anstatt nach Zebras“. Ärzte sollten sich hingegen proaktiver mit seltenen Erkrankungen, deren Symptomen und den diagnostischen Verfahren befassen.
Eine verspätete Behandlung kann für Patienten und deren Betreuer zu Einbußen in der Lebensqualität führen. Eine zeitgemäße und korrekte Diagnose seltener Erkrankungen sollte für alle Ärzte zur Priorität werden.